Digitale Lösung zur anamnestischen Risikoerkennung und –klassifikation

Abbildung 1:   à siehe Beitrag 1 – Anamnese!

Digitale Lösung zur anamnestischen Risikoerkennung und –klassifikation in der zahnärztlichen Praxis

 

Aufgrund der Vielfalt an Allgemeinerkrankungen und Medikamenten, die in einer möglichen Wechselwirkung mit der oralen Gesundheit stehen, sowie des potentiellen Einflusses von vorliegenden Lebenstillfaktoren, stellt die Anamneseerhebung mit Risikoerfassung und besonders deren Interpretation eine besondere Herausforderung in der zahnmedizinischen Betreuung dar.

PD Dr. Gerhard Schmalz, M.Sc. & Prof. Dr. Dirk Ziebolz, M.Sc.

 

Im Hinblick auf eine adäquate Risikobeurteilung zugrundliegender anamnestischer Auffälligkeiten muss zunächst zwischen Komplikations- und Erkrankungsrisiko unterschieden werden. Hierbei beschreibt das Komplikationsrisiko eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass während oder infolge einer zahnmedizinischen Intervention ein gesundheitlicher Schaden des Patienten eintreten kann (= gesamtgesundheitliche Risiken), wie das Auftreten einer infektiösen Endokarditis nach zahnärztlichen Maßnahmen (Indikation für Antibiotikaprophylaxe). Davon abzugrenzen ist das Erkrankungsrisiko und damit die erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine negative Auswirkung auf den Mundgesundheitszustand (Entstehung und Progression von Erkrankungen), wie z.B. der Einfluss eines ungünstig eingestellter Diabetes mellitus (HbA1c > 7,0) auf die Parodontitisprogression.

Die Grundlage hierfür stellt eine ausführliche und rekurrierende Anamneseerhebung dar. Die Identifikation potentieller Risikofaktoren und deren Einstufung nach möglichen Komplikations- und/oder Erkrankungsrisiken ist daher eine zentrale Aufgabe der Anamneseerhebung. Hierfür müssen vorliegende Allgemeinerkrankungen, wie u.a. Diabetes mellitus, Herzklappenersatz oder Herzschrittmacher, begleitende Medikamenteneinnahme sowie Lebensgewohnheiten (z.B. Rauchen und Ernährung) strukturiert erfasst und nachfolgend beurteilt werden (Abb. 1); die Summe möglicher Komplikations- und Erkrankungsrisiken ergibt das individuelle Risikoprofil der Patienten.

 

/// Risikoklassifikation mit System

Die Basis für eine korrekte Ableitung therapeutischer Konsequenzen aus der Anamnese stellt die korrekte Bewertung möglicher Risiken entsprechend möglichem Komplikations- und/oder Erkrankungsrisiko dar. Dabei ist für jeden Patientenfall eine stringente, individuelle Beurteilung vorliegender Allgemeinerkrankungen, der Medikamenteneinnahme und bestehender Lebensgewohnheiten zur Abschätzung des gesamtgesundheitlichen Risikos während der Behandlungssitzung nötig. Daneben ist die Bewertung oraler Erkrankungsrisiken erforderlich, wie u.a. für Karies, Erosionen sowie Gingivitis und Parodontitis.  Um dies in der Praxis realisierbar zu machen ist eine Klassifizierung potentieller Risikofaktoren bzw. Risiken nach einem Ampelcode eine sinnvolle Hilfestellung: kein / geringes (grün), moderates (gelb) oder hohens Risiko (rot) (Tab. 1). 

Auf der Grundlage einer umfänglichen Risikoklassifikation der zugrundliegenden Allgemeinerkrankungen, begleitenden Medikamenteneinnahme und/oder bestehenden Lebensgewohnheiten (Tab. 2-4) sind nachfolgend damit verbundene klinische Konsequenzen für die Behandlungssitzung und präventive Betreuung abzuleiten, wie z.B. Notwendigkeit einer Antibiotikaprophylaxe oder das Absetzen von bestimmten Blutverdünnern bei invasiven Maßnahmen (= Management von Komplikationsrisiken) sowie der Einsatz von Adjuvantien (z.B. spezielle Fluoridpräparate, Antiseptika, Speichelersatzmittel) und Empfehlung/Adaptation des individuellen Betreuungsintervalls (= Management des Erkrankungsrisikos). Die Bewertung von Risiken nach ihrer zahnmedizinischen Relevanz und entsprechender Interventionsnotwendigkeit schafft damit mehr Sicherheit in der zahnmedizinischen Betreuung. Dieser Prozess ist jedoch in Teilen komplex und erfordert eine stringente Auseinandersetzung mit der Anamnese. Daneben ermöglicht eine konsequente Risikoklassifikation mit unmittelbarer Verknüpfung von klinischen Konsequenzen eine Erleichterung der Praxisabläufe und kann somit die Effektivität der geplanten zahnmedizinischen Behandlung steigern. Hierfür es jedoch notwendig die komplexen Zusammenhänge der Anamnese einfach, schnell und sicher zu erfassen, zu beurteilen und interpretieren zu können.

 

/// Digitale Lösung zur Anamneseerhebung und Risikoklassifikation

Auf der Grundlage des oben beschriebenen, ampelbasierten Risikoklassifikationssystems mit Übersetzungsschlüssel von Risiko und klinischer Konsequenz wurde eine digitale Lösung für eine strukturierte Anamneseerhebung erarbeitet: anamnetic risk assessmen“, kurz ara.onl“.

Diese Softwarelösung beinhaltet umfassende Anamneseerhebung und Risikoklassifikation. Dazu gibt die Software wissenschaftlich-fundierte Handlungsempfehlungen unter Berücksichtigung der einzelnen verifizierten Risikofaktoren, entsprechend einem zugrundliegenden Ampelcode (Abb. 2). Diese Empfehlung leitet das Programm vollständig aus der vom Patienten vorab digital ausgefüllten Anamnese ab; der Anamnesefragebogen kann hierfür vom Patienten auf seinem digitalen Endgerät (z.B. SmartPhone, Pad) zu Hause oder in der Praxis umfänglich beantwortet werden. Die Informationen werden am Ende datenschutzkonform mittels QR-Code verschlüsselt und können nachfolgend in der Praxis gescannt und direkt in ara.onl übertragen werden. Mit der Übertragung erfolgt unmittelbar die patientenbezogene Risikobewertung und daraus abgeleitete Handlungsempfehlung (Abb. 2), d.h. in der Praxis liegt die ausgefüllte / vollständige Anamnese samt Risikobewertung des Patienten und Empfehlung für das Patientenmanagement vor. Die Anamnese kann zudem im Rahmen des Arzt-Patienten-Gespräches im Programm individuell durchgearbeitet und geändert werden; abschließend erfolgt die Verifizierung der Anamnese über eine digitale Unterschrift sowie Ablage des ausgefüllten und unterzeichneten Anamnesebogens des Patienten. Darüber hinaus sind Schnittstellen zwischen ara.onl und gängigen Praxissoftware-Systemen vorgesehen, um die Integration der Anamneseerhebung in den digitalen Praxisablauf und die Dokumentation zu erleichtern.

ara.onl beruht hierbei auf einer Datenbank von mehr als 1.500 (mundgesundheitsrelevanten) klassifizierten Medikamenten, Allgemeinerkrankungen bzw. gesundheitsbezogenen Zuständen als auch Lebensstilfaktoren mit den daraus abgleitenden (wissenschaftlich fundierten) Handlungsempfehlungen für das gesamte zahnärztliche Team. Diese Empfehlungen, basierend auf dem jeweiligen Komplikations- und Erkrankungsrisiken der Patienten, sind für die Zahnärztin / den Zahnarzt eine Hilfestellung in der Planung, Umsetzung und Nachbereitung zahnmedizinischer Behandlungen als auch der nachfolgenden (lebenslangen) präventiven Betreuung. Die Entscheidung über die Umsetzung dieser Empfehlungen obliegt jedoch am Ende den behandelnden Zahnärzt:innen. So kann es im Einzelfall auch sein, dass das Programm zunächst die Empfehlung gibt weitere Informationen vom Patienten und/oder anderen Fachärzten einzuholen.

 

/// Schlussfolgerung

Das vorgestellte digitale Anamnese-Instrument ara.onl basiert auf einem validierten Risikoklassifikationssystem und soll eine wissenschaftlich fundierte Hilfestellung für die Erhebung, Beurteilung und Interpretation der Anamnese in den Zahnarztpraxen darstellen. Hierfür werden Informationen aus der patientenbezogenen (digitalen) Anamnese direkt bewertet und risikobezogen in Empfehlungen für den Zahnarzt übersetzt. Der Workflow ist datenschutzkonform und komfortabel für Patienten und Zahnarztpraxen. Damit erleichtert ara.onl den Praxisablauf in einem vollkommen digitalen (Anamnese-)Workflow und kann dazu beitragen Sicherheit, Effektivität und Effizienz in der zahnärztlichen Praxis zu erhöhen bzw. sicherzustellen. Zum Jahresende soll die fertige Software für Zahnarztpraxen verfügbar sein. Das Konzept wurde bereits im vergangenen Jahr mit dem zweiten Platz beim Innovationspreis der Stiftung für innovative Zahnmedizin ausgezeichnet.  

 

– AUTOR
PD Dr. Gerhard Schmalz, M.Sc.
Prof. Dr. Dirk Ziebolz, M.Sc.

– KONTAKT
Universitätsklinikum Leipzig Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
Liebigstrasse 12 (Haus 1)
04 103 Leipzig
gerhard.schmalz@medizin.uni-leipzig.de
dirk.ziebolz@medizin.uni-leipzig.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung 2: Auswertung der Anamnese des Patienten in der ara.onl Software. Bild beigefügt

 

 

 

 

 

Tabelle 1: Definition der Klassifizierung potentieller Risikofaktoren nach einem Ampelcode

Klasse

Risikoprofil

Komplikationsrisiko

Erkrankungsrisiko

gering

Behandlung ohne besondere Maßnahmen möglich

kein Einfluss auf Behandlungserfolg

moderat

Nichtberücksichtigung von Grunderkrankung und/oder Medikation können die Gesundheit des Patienten negativ beeinflussen. Entsprechende Gegenmaßnahmen sind wichtig für die Gesundheit des Patienten

Nichtberücksichtigung des Risikofaktors hat einen moderaten Einfluss auf Behandlungserfolg bzw. Entstehung und/oder Progression oraler Erkrankungen

hoch

Nichtberücksichtigung von Grunderkrankung und/oder Medikation bringen möglicherweise eine vitale Gefährdung des Patienten mit sich.

Entsprechende Gegenmaßnahmen sind zwingend erforderlich

Nichtberücksichtigung des Risikofaktors hat einen ausgeprägten Einfluss auf Behandlungserfolg bzw. Entstehung und/oder Progression oraler Erkrankungen

 

Tabelle 2: Exemplarische Darstellung einiger relevanter Grunderkrankungen in Bezug auf potentielle Komplikations- und Erkrankungsrisiken

Erkrankung/Zustand

Grundproblematik

Risikoprofil

Komplikationsrisiko

Erkrankungsrisiko

Diabetes mellitus

HbA1c ≤ 7

Bidirektionale Beziehung Diabetes-Parodontitis – Parodontitisrisiko,
Mundtrockenheit – Kariesrisiko

gering

moderat

HbA1c > 7

Infektionsgefährdung, bidirektionale Beziehung Diabetes-Parodontitis – Parodontitisrisiko,

Mundtrockenheit – Kariesrisiko

hoch

hoch

Klappenersatz, Endokarditis in Vorgeschichte, angeboren zyanotische Vitien

Infektionsgefährdung
(infektiöse Endokarditis)

hoch

gering

Hyperthyreose

Komplikationsrisiko bei Adrenalinanwendung

hoch

gering

Glaukom

hoch

gering

Asthma bronchiale

Komplikationsrisiko Asthmaanfall z.B. durch Aufregung, Luft-Pulver-Wasserstrahl-Geräte

moderat

gering

Rheumatoide Arthritis

Bidirektionale Beziehung zur Parodontitis – Parodontitisrisiko,

 

gering

hoch

Dialyse

Infektionsgefährdung, Xerostomie, orale Infektionen und Karies- und Parodontitsrisiko

hoch

hoch

Infektionserkrankungen (HIV, Hepatitis, TBC)

Infektionsgefährdung, Infektionsrisiko für ZÄ-Team

hoch

hoch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tabelle 3: Exemplarische Darstellung ausgewählter Medikamentengruppen und entsprechendem Risikoprofil

Problematik

Substanzklasse

Beispiele

Risikoprofil

Komplikationsrisiko

Erkrankungs-risiko

Immun-suppression

Glukokortikoide

Prednisolon

hoch

hoch

Calcineurinhemmer

Cyclosporin A, Tacrolimus

hoch

hoch

DNA-Synthesehemmer

Mycophenolsäure, Azathioprin

hoch

hoch

Hyposalivation/Xerostomie

Antihypertensiva

Metoprolol, Ramipril

gering

moderat*

Antidepresiva

Amitryptilin

gering

moderat*

Antihistaminika

Dimetinden, Chlorphenamin

gering

moderat*

Gingiva-wucherungen

Calcineurinhemmer

Cyclosporin A, Tacrolimus

hoch

hoch

Calciumkanalblocker

Amlodipin, Nifedipin

gering

hoch

Antikonvulsiva

Phenytoin

gering

hoch

Beeinflussung des Knochen-stoffwechsels

Bisphosphonate oral

Zometa, Aclasta

moderat

gering

Bisphosphonate i.v.

Zometa, Aclasta

hoch**

gering

Monoklonale Antikörper

Denosumab

hoch**

gering

[*bei massiv Eingeschränkter Speichelfließrate kann auch ein hohes Risiko vorliegen ; ** abhängig von der Art des Eingriffes und Risiko einer medikamenten-assoziierten Kiefernekrose]

 

Tabelle 4: Exemplarische Darstellung des Risikoprofils verschiedener Lebensgewohnheiten

Lebensgewohnheit

Grundproblematik

Risikoprofil

Komplikationsrisiko

Erkrankungsrisiko

 

Raucher ≤ 10 Zigaretten/Tag

 

Parodontitisrisiko

gering

moderat

Raucher > 10 Zigaretten/Tag

gering

hoch

Vegane Ernährung

Risiko für Mangelzustände

gering

moderat

Alkoholab-hängigkeit

anamnestisch („trockener Alkoholiker“

orale Erkrankungsprogression, Einschränkung bei Mundhygieneprodukten

moderat

moderat

Aktuell

Infektionsgefährdung, orale Erkrankungsprogression

hoch

hoch