Die in den Medien verfassten Prognosen und Warnungen hinsichtlich der Auswirkungen des demografischen Wandels haben mittlerweile fast alle Lebensbereiche erreicht.
Unabhängig davon, ob man in der Tageszeitung den Wirtschafts-, Gesundheits- oder Gesellschaftsteil aufschlägt, ein entsprechender Bericht lässt sich fast täglich finden.
Sylvia Fresmann
Die demografischen Entwicklungen sind nicht mehr wegzudiskutieren. Vielmehr ist die gesamte Gesellschaft, von der Politik bis hin zum Privatmann oder –frau, aufgerufen, in allen Lebensbereichen entsprechend zu reagieren und Vorsorge zu betreiben.
Eine Kernerkenntnis der demografischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, und nicht nur da, ist die Voraussage, dass im Jahr 2050, also in nicht mal mehr 4 Dekaden, nahezu jeder dritte deutsche Staatsbürger über 60 Jahre alt sein wird.
Im Kontext mit dieser Prognose sind zweifelsohne die Ergebnisse der letzten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) zu sehen, wonach immer mehr Menschen im höheren Alter mehr eigene Zähne besitzen – heute ist nur noch jeder achte 65 – 74- Jährige zahnlos, 1997 war es noch jeder vierte. Prophylaxe funktioniert also! Bei den 65- bis 74- jährigen Patienten gibt es auch einen rückläufigen Trend bei der Parodontitis – trotz mehr erhaltener Zähne.
Insgesamt allerdings steigt der Behandlungsbedarf und das Risiko an Parodontitis zu erkranken mit steigendem Alter enorm an. Besonders ältere Patienten mit Pflegebedarf haben eine höhere Karieserfahrung, weniger eigene Zähne, häufiger herausnehmbaren Zahnersatz und zunehmend Parodontitis.
Um Erkrankungen wie Gingivitis und Parodontitis, aber auch Karies zu vermeiden bzw. ein Fortschreiten zu verhindern, ist der präventiv orientierten zahnmedizinischen Betreuung in allen Altersgruppen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
/// Die Herausforderung
Die aufgezeigten Entwicklungen lassen eine Zunahme von Parodontopathien erwarten, die nur mit einer frühzeitigen Diagnostik von Karies, Gingivitis, Parodontitis und Periimplantitis gebremst werden kann. Parallel dazu müssen entsprechende therapeutische Maßnahmen getroffen werden. In den Vordergrund sind hierbei gezielte Prophylaxemaßnahmen, insbesondere die am Erkrankungsrisiko orientierte regelmäßig durchzuführende Professionelle Zahnreinigung (PZR) oder parodontale Nachsorge, zu stellen.
Bei der Prophylaxe geht es vorrangig darum, Neuerkrankungen bzw. das Fortschreiten bestehender oraler Erkrankungen zu vermeiden. Gleichzeitig wird dadurch das Risiko möglicher Wechselwirkungen mit Allgemeinerkrankungen wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch rheumatoide Arthritis reduziert.
Die schon zitierten Entwicklungen lassen neben einer quantitativen auch eine qualitative Herausforderung erwarten.
Der Bedarf an gut ausgebildetem, professionellem Fachpersonal wird steigen. So sind neben allgemeinmedizinischen Kenntnissen über die Auswirkungen allgemeinmedizinischer Erkrankungen auf die Mundgesundheit, auch Kenntnisse über altersbedingte biologische und pathologische Veränderungen der parodontalen Strukturen erforderlich.
Neue Technik, weiter entwickelte Materialien und verbesserte Behandlungsmethoden müssen sicher beherrscht und dem Patienten individuell und überzeugend nahegebracht werden können. Dabei sind die Handicaps, individuelle Möglichkeiten und Fertigkeiten der Patienten zu berücksichtigen. Die Immobilität von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten macht die Weiterentwicklung von Behandlungs- und Praxisstrukturen erforderlich.
/// Altersgerechte Prophylaxe mit Konzept
Mit zunehmendem Alter stellt die persönliche Mundhygiene die Patienten vor immer größere Probleme. Während die Altersgruppe der Patienten bis ca. 65 Jahre noch häufig ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein aufweist und mit Prophylaxemaßnahmen sowie Mundhygieneinstruktionen in der Regel leicht erreicht werden kann, sind Patienten im fortgeschrittenen Alter (ca. 70 – 80 Jahre) zum Teil schon deutlich beeinträchtigt. Gründe hierfür können multimorbide Erkrankungen, krankheitsbedingte Medikamenteneinahmen sowie persönliche Problemstellungen sein, die die orale Gesundheit erheblich beeinträchtigen.
In der Gruppe der Pflegebedürftigen und „Hochbetagten“ (ab ca. 80 Jahren) wird die Verantwortung für Gesundheits- und Mundhygienemaßnahmen schrittweise von Angehörigen und Pflegekräften übernommen. Diese sind aufgrund der speziellen Problemstellungen der Patienten häufig überfordert.
/// Allgemeine Anamnese
Der Anamnese kommt eine besondere Bedeutung zu. Als sehr hilfreich haben sich in diesem Zusammenhang vorbereitete Anamnesebögen erwiesen.
Insbesondere ältere Patienten müssen häufig aufgrund bestehender (Allgemein-) Erkrankungen als Risikopatienten eingestuft werden. Herzerkrankungen, Blutgerinnungsstörungen, Diabetes mellitus, Nierenerkrankungen, Immundefekte, Altersdepressionen etc. sind zwingend zu Beginn der Behandlung bei Neupatienten zu erheben und anschließend bei den Prophylaxesitzungen zu überprüfen. Die konsequente Nachfrage nach veränderter Medikation und weiteren Allgemeinerkrankungen ermöglicht eine zielgerichtete Behandlungsplanung. Risikofaktoren wie Nachblutungen, Bakteriämie etc. können so minimiert werden. Gegebenenfalls ist eine weitere Abklärung mit dem behandelnden Hausarzt herbeizuführen, z.B. der Notwendigkeit einer antibiotischen Abschirmung.
/// Spezielle Anamnese
Im Rahmen der speziellen Anamnese werden detailliert Informationen zu dem individuellen Mundgesundheitsstatus des Patienten erhoben.
- „Food Impaktion“
Speisereste in den Zahnzwischenräumen? - „Zahnstein“
Wo? Wie viel? Nur an den bevorzugten Stellen UK-Front / OK-Molarenbereich oder überall? - „Beurteilung der Schleimhäute“
Farbe? Verlauf? Oberfläche? Form? Breite? - „Zahnbestand/-status“
Fehlende, kariöse Zähne, Füllungen, Kronen, Fehlstellungen? - „Retentionsstellen“
Überhängende Füllungs-/und Kronenränder ? Prothesen mit ungenauen Halteelementen? unpolierte Füllungen? beschädigter Zahnersatz? - „Mechanische Läsionen“
Fehlerhafte Putztechniken? Zahnschäden durch Früh-/ Fehlkontakte, Knirschen, Pressen? - „Chemische Läsionen“
Schmelzerosionen durch zu viele direkte Säureangriffe? - „Vitalitätsprüfung der Zähne“
- „Röntgenbilder“
/// Befundaufnahme
Alle Indices und Parameter, die für die Mundgesundheit des Patienten von Wichtigkeit sind, wie z. B. Rauchen, Medikamenteneinnahme, vertiefte Zahnfleischtaschen ab 4 mm, Allgemeinerkrankungen und kariöse Läsionen in den letzten 2 Jahren etc., müssen aussagekräftig erhoben und umfassend dokumentiert werden.
- „Plaqueindices“
B. API zur Motivation des Patienten - „BOP“ (Bleeding on Probing)
Bluten Zahnfleischtaschen nach Sondierung mit einer PA-Sonde, gelten sie als aktiv und bedürfen der Behandlung - „Sondierungstiefen > 4 mm“
- „Rezessionen“
- „Furkationsbefall“
- „Zahnbeweglichkeit“
- „gegebenenfalls Speichelparameter“
Sekretionsrate und Pufferkapazität
Erst die anschließende Zusammenfassung und Bewertung der Befunde ermöglicht eine individuelle Behandlungsplanung und die Empfehlung optimaler Mundhygienemaßnahmen.
Moderne computerunterstützte Befunderhebungsprogramme bieten hierbei eine gute Unterstützung. Anhand der erhobenen Parameter wird das individuelle Risiko bestimmt und professionell dokumentiert. Per Ausdruck kann so über eine Zeitreihe hinweg der Verlauf und der Erfolg der Behandlung nachvollzogen werden (Qualitätssicherung).
Ein besonders benutzerfreundliches und leicht verständliches Programm in dieser Hinsicht ist die Software „ParoStatus.de“ (www.ParoStatus.de).
/// Aufklärung und Beratung
Im Anschluss an Anamnese und Befunderhebung wird der Patient über den weiteren Behandlungsablauf aufgeklärt und individuell beraten. Umfang und Inhalte der Beratung müssen sich zwangsläufig an den individuellen Möglichkeiten des Patienten orientieren.
Insbesondere bei älteren Patienten sind Empfehlungen und Ratschläge dosiert einzusetzen. Entscheidend ist, dass die Inhalte verstanden und vom Patienten nachvollzogen werden können. Hilfreich ist hier der zuvor genannte Ausdruck der Software ParoStatus.de. Patienten profitieren besonders von dem sich selbst erklärenden und übersichtlichen Befundbogen, der in ausgedruckter Form dem Patienten mit nach Hause gegeben wird. Der Patient kann mit diesem Ausdruck sein individuelles Erkrankungsrisiko neben einer textlichen Erklärung anhand einer „Ampelgrafik“ nachvollziehen. Grün bedeutet „alles o. K.“, gelb bedeutet „Achtung, Vorsicht, dieser Bereich muss beobachtet werden“ und Rot wird gleichgesetzt mit „sofortiger Handlungsbedarf“. Empfehlungen für den weiteren Behandlungsablauf sowie individuelle Ratschläge für die häusliche Mundhygiene und individuelle Recallabstände runden den Patientenbefundbogen ab. Anschaulichkeit, Motivation und Instruktion werden beim ParoStatus.de-System richtungsweisend umgesetzt.
/// Professionelle Prophylaxemaßnahmen in der Praxis
Zu den professionellen Prophylaxemaßnahmen gehören insbesondere
- Regelmäßige Kontrolluntersuchungen (1 x pro Jahr Ermittlung des aktuellen Karies- und Parodontitisrisikos)
- Prophylaxebehandlung oder UPT (risikoabhängig bis zu 4 mal pro Jahr è Mundhygienestatus, Motivation / Instruktion, professionelle Zahnreinigung, lokale Fluoridierung)
- Antimikrobielle Maßnahmen
- Halbjährliche Kontrolle der Speichelparameter
Mit der gründlichen Entfernung des bakteriellen Biofilms wird oralen Folgekrankheiten wie Parodontitis, Periimplantitis, Wurzelhalskaries etc. vorgebeugt. Schädliche und den gesamten Organismus belastende mögliche Wechselwirkungen zwischen entzündlichen Erkrankungen der Mundhöhle und Allgemeinerkrankungen wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch rheumatoide Arthritis etc. können so reduziert werden.
/// Häusliche Mundhygieneempfehlungen
Im Sinne der Prophylaxe spielt die häusliche Mundhygiene eine bedeutende Rolle. Während die professionelle Zahnreinigung (oder UPT) in der Praxis risikoorientiert in Abständen von 3 bis 6 Monaten durchgeführt wird, kann der Patient mit häuslichen Mundhygienemaßnahmen täglich einen eigenen und wichtigen Beitrag zu seiner Gesundheit leisten.
- Altersgerechte Zahnputztechnik
- Altersgerechte Hilfsmittel zur Approximalraumreinigung (z.B. Sonicare AirFloss)
- Fluoridhaltige Zahnpasta
- Verwendung von Zuckeraustauschstoffen
- Reduzierung saurer Speisen und Getränke
- 2x täglich Fluoridspülungen
- fluoridhaltige, befeuchtende Gele in Applikationshilfen (Medikamententräger) bei stark reduziertem Speichelfluss
- Bei Mundtrockenheit: Einsatz von speziellen Produkten (z.B. GUM HYDRAL)
- CHX-Intensivtherapie (z.B. 10 – 14 Tage Mundspülung Meridol 0,2% CHX)
- Schallzahnbürste bei motorischen Schwierigkeiten (z.B. Philips Sonicare)
- Prothesenpflege
/// Altersbedingte Problemstellungen bei Senioren
Altersgruppe |
Situation |
Konsequenzen |
Patienten im Alter von 65 – 75 Jahren
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§ In der Regel noch sehr aktive, qualitätsorientierte, gut informierte § Für Prophylaxe und ästhetische Maßnahmen gut erreichbar. § Festsitzender Zahnersatz § Implantate § Attachementverlust § Wurzelkaries
§ Bezeichnung auch als o „Best Ager“ o „Silver Ager“ o „Generation Gold“ o „Generation 50 plus“ |
§ Konsequentes, risikoorientiertes Recalls (1-4 Sitzungen pro Jahr) § Dokumentation der Mundhy-gieneindices § Individuelles Risikoprofil § Professionelle Zahnreinigung § Zungenreinigung § lokale Fluoridierung § Kontrolle der Speichelparameter § Individuelle Information/ Motivation/ Remotivation § Ernährungshinweise § Ggf. Raucherentwöhnung § Instruktionen zum effektiven Gebrauch von Mundpflege-produkte |
Altersgruppe |
Situation |
Konsequenzen |
Patienten im Alter von 75 – 85 Jahren
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§ In der Übergangsphase zwischen gesund und gebrechlich § Auftreten erster Beschwerden, teilweise Pflegebedürftigkeit § Teilweise Beeinträchtigungen der Lebensqualität § (Teil-)Prothesenträger § Mögliche kognitive und feinmoto-rische Beeinträchtigungen § Motivationsstörungen möglich § Informationsdefizite § Erkrankungen des Parodontiums § Attachementverlust § Mundtrockenheit § Wurzelkaries
|
§ Konsequentes, risikoorientiertes Recalls (1-4 Sitzungen pro Jahr) § Dokumentation der Mundhy-gieneindices § Individuelles Risikoprofil § Professionelle Zahnreinigung § Zungenreinigung § lokale Fluoridierung § Kontrolle der Speichelparameter § Individuelle Information/ Motivation/ Remotivation § Ernährungshinweise § Ggf. Raucherentwöhnung § Instruktionen zum effektiven Gebrauch von Mundpflege-produkte § Einbeziehung von Angehörigen § Ggf. Rücksprache mit dem Hausarzt |
Altersgruppe |
Situation |
Konsequenzen |
Patienten im Alter ab 85 Jahren – teilweise mit Pflegebedarf
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§ In der Regel bereits stark im Tagesablauf eingeschränkt § Weitere Einschränkungen durch schwerwiegende Erkrankungen möglich (Herzerkrankungen, Schlaganfall, Demenz etc.) § Häufig bereits pflegebedürftig § Mundtrockenheit § Wurzelkaries § Parodontitis § Selbstständige Mundhygiene gar nicht oder nur eingeschränkt möglich
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§ Mobile Hilfe im Altenheim § Professionelle Zahnreinigung, Prothesenreinigung § Zungenreinigung § lokale Fluoridierung § Kontrolle der Speichelparameter § Altersgerechte Kommunikation / Information / Motivation / Remotivation § Ernährungshinweise § Hinweise und Instruktionen zum effektiven Gebrauch von altersgerechten Mundpflege-produkten § Einsatz von Sprays und Mundspüllösungen § Einbeziehung von Angehörigen und Pflegepersonal, ggf. Unterweisung in Mundpflege-techniken § Ggf. Rücksprache mit dem Hausarzt
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/// FAZIT
Die demografischen Veränderungen werden die Praxen künftig in zunehmendem Maße mit altersspezifischen Problemstellungen konfrontieren.
Dabei bedingt die steigende Anzahl eigener Zähne in der Generation 65+ eine Zunahme des parodontalen Behandlungsbedarfs und stellt eine Herausforderung an die Prävention und die Therapie von Parodontalerkrankungen dar.
Geriatrische Besonderheiten und daraus resultierende Anforderungen machen auch in Zukunft den Einsatz gut ausgebildeter, qualifizierter MitarbeiterInnen erforderlich. Eine gute Mundgesundheit ist nicht nur für den Mundraum entscheidend, sondern trägt nachweislich zur Allgemeingesundheit bei. Sie beeinflusst direkt die Lebensqualität des Menschen.
Unabhängig vom Alter können Patienten aller Altersgruppen erfolgreich parodontal behandelt werden. Dabei sollte die Parodontitisbehandlung stets im Sinne einer systematischen Parodontitistherapie erfolgen. Die Nachhaltigkeit eines stabilen Therapieerfolgs sowie die Prävention von Neuerkrankungen hängen dabei in hohem Maße von regelmäßiger, bedarfsorientierter Nachsorge und einer guten Mundhygiene ab.
– KONTAKT
Sylvia Fresmann
Deutsche Gesellschaft für Dentalhygienikerinnen e.V.
Fasanenweg 14
48249 Dülmen
Telefax: 02590/94 65 30
E-Mail: Fresmann@dgdh.de