Der Angriff der Säuren … Dentale Erosionen

In den letzten Jahren hat die Bedeutung der dentalen Erosionen, der Zahnhartsubstanzveränderung ohne Beteiligung von Bakterien, zugenommen. Das zeigen nicht nur die Erfahrungen aus der täglichen Praxis, sondern auch Studien (West NX, Sanz M, Lussi A et al (2013) Prevalence of dentine hypersensitivity and study of associated factors: a European population-based cross-sectional study. J Dent 41:841–851)

Heike Wilken

Eine vor einigen Jahren auf europäischer Ebene durchgeführte Studie (Lussi A, Carvalho TS. Erosive tooth wear: a multifactorial condition of growing concern and increasing knowledge. Monogr Oral Sci. 2014; vol 25, pp 1–15) konnte zeigen, dass schon ein Drittel der 20 bis 30-Jährigen an mindestens einem Zahn eine deutliche Erosion aufweisen. Erosionen sind multifaktorell, bei vielen Patienten sind jedoch säurehaltige Lebensmittel in der Hauptsache die Ursache. Dies ist auf ein verändertes Gesundheits- und Ernährungsverhalten zurück zu führen –  immer mehr Menschen trinken zunehmend Getränke mit niedrigem ph-Wert  (z.B. Fruchtsäfte) und essen vermehrt säurehaltige Früchte oder Salate mit Essigdressings. Die Erosionen nehmen zu, denn der Trend geht weiter hin zu einer gesundheitsbewussten Ernährung. Doch die Ernährung ist nicht die einzige Ursache: Nicht wenige Betroffene, leiden unter Refluxbeschwerden. Bei ihnen schädigt zurücklaufende Magensäure die Zähne. Bei einer nicht geringen Patientengruppe ist Bulimie oder Anorexia nervosa die Ursache. Bei den zumeist weiblichen Betroffenen werden die Zähne durch Magensäuren beim Erbrechen geschädigt. Ein Problem ist: Die Patienten nehmen diese Gefahr in der Regel längere Zeit überhaupt nicht wahr, denn Erosionen verursachen erst einmal keine Schmerzen. Patienten bemerken im Frühstadium davon nichts. Sie werden erst auf die Läsionen aufmerksam, wenn ihre Zähne aufgrund der dünneren Schmelzschicht gelber und kürzer werden oder wenn sie an Überempfindlichkeiten leiden.

 

BEWE Score im ParoStatus System

 

/// Spezielle Anamnese

Wie bei allen anderen Patienten auch, ist es wichtig, eine sorgfältige Anamnese aufzunehmen. Hierbei muss nicht nur nach Magenproblemen, Medikamenten und Zahnpflegegewohnheiten gefragt werden, sondern auch eine sorgfältige Ernährungsanamnese durchgeführt werden.Einen großen Einfluss auf die Therapie von Erosionen hat, wie schon ausgeführt, das Ernährungsverhalten der Patienten. Hier ist die Prophylaxe-Fachkraft gefordert. Die Beratung benötigt Fingerspitzengefühl und auch die Erkenntnis, dass ein komplettes Verbot nicht immer zielführend ist. Ein Ernährungsprotokoll kann da sehr hilfreich sein. Dieses sollte an mindestens vier aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt werden und auch das Wochenende mit einbeziehen. Den meisten Patienten ist gar nicht bewusst, in welchen Lebensmitteln Säure enthalten ist. Außerdem ist das Ernährungsverhalten am Wochenende oftmals ganz anders. Die anschließende Ernährungsberatung sollte dazu genutzt werden, dem Patienten bewusst zu machen, welche Nahrungsmittel eine erosive Wirkung haben. Liegen mehr als 4 Säureinputs pro Tag vor und ist mindestens ein weiterer Risikofaktor vorhanden, so besteht ein erhöhtes Erosionsrisiko.

 

/// Befunderhebung und Indizes

Deshalb ist eine gute klinische Diagnostik von Erosionen im Frühstadium sehr wichtig. Sobald Erosionen klinisch festgestellt werden oder Anzeichen für ein erhöhtes Erosionsrisiko vorhanden sind, sollte beim Patienten eine genaue Abklärung durchgeführt werden. Die von Bartlett, Ganß und Lussi entwickelte Kurzuntersuchung (BEWE = Basic Erosive Wear Examination) eignet sich gut dazu, Erosionen zu quantifizieren und zu dokumentieren.

 

Der BEWE-Score ermöglicht eine Beurteilung der Säureschäden eines Gebisses mit geringen Zeitaufwand. Er ist einfach zu erlernen und unterstützt den Behandler bei der Planung des weiteren Managements des Patienten. Mit Ausnahme der dritten Molaren werden alle Zähne jeweils vestibulär, okklusal und oral auf Säureschäden untersucht. Dabei wird jedem Zahn, je nach stattgefundenen Substanzverlust, ein Wert zwischen 0 und 3 zugeordnet und der höchste Wert in jedem Sextanten addiert.

Grad

Klinisches Erscheinungsbild

0 kein erosiver Subtanzverlust
1 Beginnender Verlust der Oberflächenstruktur
2 Klar ersichtlicher Verlust von Zahnhartsubstanz    < 50% der Oberfläche. 
3 Ausgeprägter Verlust von Zahnhartsubstanz         > 50% der Oberfläche.
BEWE Erfassung    
Höchster Grad 
1. Sextant (17-14)
Höchster Grad    
2. Sextant (13-23)
Höchster Grad
3. Sextant (24-27)
Höchster Grad
6. Sextant (44-47)
Höchster Grad  
5. Sextant (33-43)
Höchster Grad  
4. Sextant (37 -34)
Summe:    

 

Der aktuelle klinische Befund kann zur kontinuierlichen Verlaufskontrolle zusätzlich fotografisch festgehalten werden.

 

Besonders einfach kann der BEWE-Score im Programm ParoStatus.de aufgenommen werden. Hier wird lediglich der Grad der Erosion erfasst und dokumentiert. Die Berechnungen und Konsequenzen werden automatisch in ParoStatus vorgenommen und dargestellt. Aus dem Popup-Menü wird der Grad der Erosion ausgewählt.

 

Schweregrad der

Erosion

Summe der Sextanten

Management

gering

3-8

MH Instruktion

Ernährungsberatung

Beratung Reflux?

Aufklärung und Überwachung der Situation mit Modellen und Fotos. BEWE alle 2 Jahre

mittel

9-13

MH Instruktion Ernährungsprotokoll

Zusätzliche Empfehlung von Fluoridierungsmaßnahmen. Evtl. Restaurative Maßnahmen

BEWE alle 12 Monate.

hoch

 

>14

MH Instruktion Ernährungsprotokoll

zusätzlich spezielle Betreuung bei schnellen Fortschreiten der Erosionen

der Erosionen. Restaurative Maßnahmen. Wiederholung BEWE alle 6 Monate.

 

 

/// Patientenbezogene Risikofaktoren

Ess- und Trinkgewohnheiten: Die Art der Aufnahme der erosiven Nahrungsmittel oder Getränke (schluckweise, mit oder ohne Trinkhalm) bestimmt die Dauer und die Lokalisation des Säureangriffes und damit das Erscheinungsbild der Erosionen. Die Häufigkeit und Dauer von Säureangriffen sind von entscheidender Bedeutung für die Zahnhartsubstanzzerstörung und damit auch für das Ergreifen von Prophylaxemaßnahmen.

 

  • Reflux

Gastro-ösophagealer Reflux kommt bei Kindern und Erwachsenen bei 10% der Fälle vor und führt oft zu erosiven Zahnschäden. Asymmetrisch verteilte Erosionen deuten auf nächtlichen Reflux bei Bevorzugung einer Schlafseite hin.

 

Mögliche Symptome bei gastro-ösophagealem Reflux:

  • Erosionen
  • Saures Aufstoßen
  • Sodbrennen
  • Saurer oder bitterer morgendlicher Geschmack im Mund
  • Übelkeit
  • Erbrechen
  • Chronische Erkrankungen wie Asthma.

 

  • Speichel und Medikamente

Ein weiterer Faktor ist der Speichel. Zu den schützenden Eigenschaften des Speichels bei einem Säureangriff zählen: Säureverdünnung, Säureneutralisation, Verminderung der Schmelzauflösung durch Kalzium und Phosphat-Ionen. Es gibt viele Medikamente die zu einer Reduktion der Speichelsekretion führen. Dazu gehören u.a. Tranquillizer, Antihistaminika, Antiparkisonpräparate. Besonders Erosionspatienten sollen deshalb immer auch bezüglich eingenommener Medikamente befragt werden.

 

 

 

  • Instruktion zur häuslichen Zahnpflege

Aufgeweichte Zahnhartsubstanz ist anfällig für abrasive oder attritive Prozesse. Ohne Erweichung der Zahnhartsubstanz wird beim Zähneputzen bedeutend weniger Schmelz abradiert, als wenn eine erosive Vorschädigung besteht. Aus diesem Grund ist eine weiche Zahnbürste zu empfehlen. Elektrische Zahnbürsten haben bei Falschanwendung häufig ein größeres Abrasionspotenzial auf erodiertem Schmelz und Dentin als manuelle Zahnbürsten. Patienten wenden die elektrischen, aber auch die manuellen Zahnbürsten häufig falsch an – zu viel Druck und zu ungenaues Putzen führt auf die Dauer zu Zahnhartsubstanzschäden. Bei der Empfehlung in der Praxis sollte die geeignete Putztechnik am Modell gezeigt werden. Ergänzend sollte auch die Prophylaxefachkraft exemplarisch die Putztechnik im Munde des Patienten durchführen – gerade das Gefühl für Druck können manche Patienten nur entwickeln, wenn sie den richtigen Druck einmal gespürt haben. Am Ende der Instruktion probiert der Patient es unter Anleitung der Prophylaxefachkraft selbst. So hat das Erlernte auch die Chance häusliche Gewohnheit zu werden. Selbstverständlich gelten auch bei unseren Erosionspatienten die Regeln der Zahnzwischenraumreinigung – je nach Größe des Zahnzwischenraums sollte das geeignete Hilfsmittel (Zahnseide oder Interdentalraumbürstchen) ausgesucht werden.

 

/// Ernährungsbezogene Risikofaktoren

  • Säuretyp, PH, Pufferkapazität

Schon sehr lange ist bekannt, dass saure Nahrungsmittel und Getränke die Zahnhartsubstanz erweichen können. Dabei nimmt der Anteil von Softdrinks und Fruchtsäften am Getränkekonsum in Europa stetig zu und liegt bei über 30% bei den nicht alkoholischen Getränken. Eine Untersuchung bei 14-jährigen Kindern zeigte, dass 80% der Kinder Softdrinks konsumierten. Mehr als 10% dieser Kinder tranken mehr als 3-mal täglich Softdrinks. Die Erosivität von Lebensmitteln wird aber nicht nur durch die Häufigkeit und den ph-Wert bestimmt, sondern auch durch die Pufferkapazität, die Chelatoreigenschaften und andere Faktoren, wie dem Kalzium- oder Phosphatgehalt. So können beispielsweise Chelatoreigenschaften von Flüssigkeiten durch Interaktion mit dem Speichel den Erosionsprozess beeinflussen. Getränke und Speisen können trotz ähnlicher ph-Werte ein unterschiedliches erosives Potenzial aufweisen. Je größer die Pufferkapazität eines Getränkes oder Speise ist, desto länger wird es dauern, bis der ph-Wert durch den Speichel erhöht werden kann.

 

  • Kalzium-Phosphat

Der Kalzium- und Phosphatgehalt eines Getränkes oder Nahrungsmittels ist deshalb sehr wichtig. Kalziumangereicherter Orangensaft zeigt keine Erweichung der Schmelzoberfläche und kann auch erosionsgefährdeten Patienten empfohlen werden. Im Unterschied dazu zeigte sich in nicht kalziumversetztem Orangensaft eine starke Erweichung der Schmelzoberfläche.

 

 

/// Empfehlungen für die Patienten

Ist das Problem einmal erkannt, ist auch die Mitarbeit des Patienten in der Behandlung entscheidend. Denn verloren gegangener Zahnschmelz kann nicht wiederaufgebaut werden. Daher ist es empfehlenswert, den Patienten eine besonders schwach abrasive Zahnpaste mit Fluorid und Zinn zu empfehlen. Diese bilden einerseits auf der Zahnoberfläche eine säureresistente Schutzschicht und lagern sich andererseits in erosiv veränderten Oberflächen in Form von Zinn-Ionen ein. Die regelmäßige Anwendung einer Fluorid- und zinnhaltigen Spüllösung sowie eines Fluoridgels haben noch einen zusätzlich positiven Effekt. Für die häusliche Zahnpflege eignet sich eine weiche Zahnbürste mit einer schonenden Zahnputztechnik. Zur Stimulierung der Speichelfließrate sind zahnschonende (mit Xylitol) Zahnkaugummis oder Lutschbonbons hilfreich. Empfehlenswert ist es, säurehaltige Lebensmittel zu reduzieren und auf möglichst wenige Hauptmahlzeiten zu beschränken. Mittlerweile gibt es viele Getränke und Lebensmittel, die mit Kalzium und Phosphat angereichert sind, die dann zu bevorzugen sind. Ein weiterer praktischer Tipp: Säure- und zuckerhaltige Getränke sollten nicht in kleinen Schlückchen über einen längeren Zeitraum konsumiert oder gar durch die Zähne gezogen werden.

 

 

/// Fazit

Erosionen sind multifaktorell und kommen manchmal nicht allein … deshalb müssen diese Patienten in der Praxis professionell vom Zahnarzt und seinem Team begleitet werden. Die Recallfrequenz sollte risikoorientiert erfolgen, hier hat sich die Systematik im System ParoStatus bewährt, die auch den BEWE-Score bewertet und in die empfohlene Recallfrequenz mit einfließen lässt. Während des Recalltermins sollten auch die parodontalen Befunde, Mundhygieneindices und die Kariesdiagnostik mit erhoben werden – also ein wie immer umfassendes Monitoring des Patienten.

Nur so kann der IST-Zustand erhalten und weiterer Zahnverlust vermieden werden.

 

– AUTORIN

Heike Wilken

Leitende Dentahlhygienikerin in der Fachpraxis Dr. Westermann in Emsdetten

 

– KONTAKT

Sylvia Fresmann
Deutsche Gesellschaft für Dentalhygienikerinnen e.V.
Fasanenweg 14
48249 Dülmen
Telefax: 02590/94 65 30
E-Mail: Fresmann@dgdh.de