Paradigmenwechsel: vom Nutzen eines kleineren koronalen Zugangs

Herr Dr. Matthias Holly

 

Bislang folgten viele endodontische Behandlungen dem Grundsatz: Wer koronal „großzügig“ präpariert, der hat eine gute Sicht auf die Wurzelkanäle und hat es leichter, sie adäquat zu spülen. Was bei diesem Ansatz jedoch in den Hintergrund rückt, ist der Substanzerhalt. Endo-Experten wie Dr. Matthias Holly, M.Sc., Wien, Österreich, legen auf diesen Aspekt heute allerdings besonderen Wert. Welche Gründe es dafür gibt und warum sie zu einem Paradigmenwechsel in der Endodontie beitragen, erörtern wir im Interview.

 

dental:spiegel Herr Dr. Holly, geben Sie uns doch bitte zunächst einen Einblick in Ihren Praxisalltag. Wo liegen Ihre Schwerpunkte und mit welchen Fällen haben Sie hauptsächlich zu tun?

Dr. Matthias Holly: Seit elf Jahren bin ich in einer Gruppenpraxis für Endodontie tätig. Davor war ich sieben Jahre an der Universitätszahnklinik in Wien beschäftigt. Mein Praxisalltag besteht zu rund 90 Prozent aus Wurzelbehandlungen unter dem Mikroskop, rund drei Viertel davon Revisionen und Wurzelspitzenresektionen. Der Rest verteilt sich auf nekrotische oder pulpitische Erkrankungen. Ungefähr fünf Prozent der Behandlungen machen Traumafälle bei Kindern aus. Im internationalen Vergleich würde ich diese Verteilung von Fällen für eine auf mikroskopische Endodontie spezialisierte Praxis als ziemlich normal einschätzen.

Feilen der Pro Taper Ultimate Serie mit relevanten geometrischen Daten. Foto: Dentsply Sirona

 

In der Zahnmedizin kommen in verschiedensten Situationen minimalinvasive Techniken zum Einsatz. Welche Bedeutung schreiben Sie ihnen in der Endodontie zu?

Minimalinvasiv klingt natürlich erst einmal super. Alternativ könnte man auch maximal erhaltend oder maximal konservativ sagen. Der Grundgedanke bleibt der gleiche: Man möchte nachhaltig arbeiten. Man muss aber auch wissen, wo man das sinnvoll tun kann. Früher an der Universität oder noch zu Zeiten meines Vaters war der Ansatz ein anderer: Das begann mit „groß aufmachen“ mit ISO 60 oder 70, dann einen Stift und dann die Krone – das ist weit weg von minimalinvasiv, das ist maximale Reinigung auf Kosten der Zahnhartsubstanz. Dank technischer Weiterentwicklungen geht man heute andere Wege. Durch neue Werkstoffe und feinere Instrumente ist mittlerweile am anderen Ende des Spektrums die sprichwörtliche Reinigung durch das Schlüsselloch möglich. Die Wahrheit liegt für mich oft in der Mitte. Denn die Zähne haben meist schon einen Substanzdefekt, wenn die Patienten an uns überwiesen werden. Doch auch hier stelle ich mir die Frage: Wie viel Substanzabtrag ist wirklich nötig? Bessere Chancen habe ich, wenn ich beispielsweise bei einem nicht entdeckten Kanal als Erster aufbereiten kann. Hier kann ich die Möglichkeiten der heute verfügbaren zarten Instrumente von Anfang an ausspielen. Denn grundsätzlich gilt: In Zeiten einer chemo-mechanischen Aufbereitung bleibt die mechanische Komponente selbstverständlich notwendig, aber sie wird graziler.

 

Inwiefern verträgt sich das mit dem Ideal des geradlinigen Zugangs?

Koronal einen geraden Zugang zu machen, um apikal etwas einzusetzen – das ist heute nicht mehr zwingend erforderlich. In diesem Zusammenhang muss man bedenken, dass man auf verschiedenen Ebenen minimalinvasiv arbeiten kann. Das kann sich auf die Trepanation beziehen oder auf den Zugang, mal betrifft es den koronalen, mal den apikalen Teil des Wurzelkanals. Vor diesem Hintergrund kann der geradlinige Zugang durchaus auch bei einem minimalinvasiven Vorgehen nötig sein. Aber er ist längst nicht mehr so obligatorisch, wie es früher gelehrt wurde.

 

Welche Vorgehensweise haben Sie für sich gefunden und wie funktioniert sie?

Es ist so: Für die minimalinvasive Arbeit bei einem unbehandelten Kanal beginne ich eine Sondierung mit 6er, 8er oder 10er-Feile in Stahl per Hand. Danach verwende ich das kleinstmögliche Instrument des TruNatomy-Systems den TruNatomy Glider um einen Gleitpfad bis zum Apex zu erstellen. Das ist eine essenzielle Sequenz, die ich immer anwende. Das ist sozusagen die Sondierungsphase, in der ich mir Zahnsubstanz erhalte. In der anschließenden Ausformungsphase bleibe ich bei TruNatomy, weil ich damit vor allem apikal ausreichend präparieren kann und koronal nicht unnötige Zahnsubstanz bearbeiten muss. Folglich überlege ich mir, ob ich zum Beispiel im palatinalen oder distalen Kanal eine konischere Feile wie ProTaper Ultimate oder WaveOne Gold verwende, um eine Erweiterung der bisherigen Kanalform zu erreichen.

 

Mit ProTaper Ultimate erwähne Sie gerade ein noch recht „junges System“, es ist erst seit dem Frühjahr 2022 auf dem Markt. Wo sehen Sie hier die Vorteile und welche Erfahrungen haben Sie bislang gemacht?

Meiner Erfahrung nach ermöglicht es eine schöne Ausformung des Wurzelkanals auf eine effiziente Weise. Damit lassen sich sehr gute Voraussetzungen für eine adäquate Desinfektion mit Spülflüssigkeit schaffen – mit diesem Vorteil tritt das System in die Fußstapfen früherer ProTaper-Systeme. Darüber hinaus erscheint mir hier insbesondere der Bereich der Obturation gut gelöst. Durch die Verwendung von Guttapercha-Spitzen, die in ihrer Konizität exakt auf die zuletzt verwendete Feile abgestimmt sind, kann man hier zeitsparend zum Ziel kommen. Gerade Standardsituationen lassen sich so schnell und einfach füllen. Salopp gesagt bekomme ich mit ProTaper Ultimate einen genau sitzenden Point, ohne groß darüber nachdenken zu müssen.

 

Ist eine Arbeitsweise nach dem Motto „koronal konservativ“ in jedem Fall möglich oder kommt diese Philosophie auch an ihre Grenzen?

Es gibt Situationen, wo man koronal etwas größer öffnen muss, um das Problem zu lösen. Dort müssen wir einen Kompromiss finden zwischen minimalinvasiver Vorgehensweise und der für die Behandlung notwendigen Präparation. Wenn zum Beispiel ein Fremdkörper wie ein frakturiertes Instrument entfernt werden soll, dann muss man die Präparation ganz einfach etwas umfangreicher ausfallen. Ähnlich ist es, wenn ich durch das 3D-Röntgen feststelle, dass eine spezielle Anatomie wie eine apikale Aufteilung oder ein apikales Delta vorliegt. Dann will ich diese Stelle sowohl mit den Feilen als auch mit der Spülflüssigkeit erreichen können. Entsprechend kann es dann notwendig sein, mehr Zahnsubstanz abzutragen, um die Kanäle reinigen zu können.

Letztendlich stellt sich auch immer die Frage nach der postendodontischen Versorgung. Ist der Zahn stark belastet und braucht eine Überkronung oder eine Stiftversorgung? Dann muss ich nicht enorm minimalinvasiv arbeiten. Habe ich allerdings einen zarten Prämolaren, der bei entsprechender Vorgehensweise auch ohne Überkronung auskommt, dann möchte ich die Substanz sehr gerne bestmöglich erhalten. Das ist mit TruNatomy sehr effizient möglich.

 

Sie haben kürzlich einen Anwenderbericht gemeinsam mit Ihrem Kollegen, DDr. Johannes Klimscha, publiziert. In einem Fall haben Sie dort die Vorgehensweise mit zwei verschiedenen Feilensystemen beschrieben (mesial: TruNatomy, distal: zusätzlich ProTaper Ultimate). Was hat es mit dieser Kombination auf sich?

Wir arbeiten hier mit einer Hybrid-Technik, um für jeden Kanal oder Kanalabschnitt das passende Instrument zu verwenden, je nach Anatomie, auch wenn wir dabei das Feilensystem wechseln. Allgemein ist es allerdings eine gute Idee, dass man in einem System bleibt. Wir geben viele Endo-Kurse für zahnärztliche Allrounder. Anders als Spezialisten haben sie bei diesem Thema nicht die Zeit, beliebig weit in die Tiefe zu gehen. Gerade für sie ist es absolut sinnvoll, ein „Standard-System“ zu haben, auf das sie sich fokussieren. Heutzutage sind diese Systeme auch so weit entwickelt, dass sich mit ihnen schwierigere Kanalanatomien bearbeiten lassen. Wichtig ist dabei, die Stärken und Schwächen eines Systems zu kennen und zu wissen, was es kann und wo die Grenzen liegen. Dann lassen sich rund 80 Prozent der Fälle mit einem System wie ProTaper Ultimate lösen. Als Spezialist hingegen arbeite ich sehr oft mit einer Hybridtechnik.

Wenn Sie Kollegen eine einzige Änderung an ihrem Endo-Workflow nahelegen dürften, welche wäre das?

Ganz klar: die Desinfektion! Ich persönlich habe begonnen, nach jeder Feile nicht nur zu spülen, sondern auch eine Schallaktivierung vorzunehmen. Wenn man ein solch striktes Desinfektionsprotokoll verinnerlicht hat, dann kann und will man auch automatisch ein System wie TruNatomy verwenden – weil diese Kombination meiner Erfahrung nach unschlagbar ist. Damit mache ich nicht nur eine reine Schmerzbehandlung, sondern erreiche mit der Verbindung von Desinfektion und Minimalinvasivität ein neues Level an Langfristigkeit.

Herr Dr. Holly, vielen Dank für das Gespräch!

 

– AUTOR
Dr. Matthias Holly & DDr. Johannes Klimscha OG
Gruppenpraxis für Zahnheilkunde
Wien
Österreich

 

– KONTAKT

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