Oder: Was haben Dachdecker und zahnmedizinisches Personal gemeinsam? Richtig, in den meisten Fällen Rückenschmerzen.
Wer bereits unter Rückenschmerzen leidet, weiß wovon ich spreche und sollte unbedingt weiterlesen; wer bisher von diesem Problem noch nicht oder nur in geringem Umfang betroffen ist, sollte vorbeugend auf verschiedenen Ebenen tätig werden und ebenfalls weiterlesen!
/// Das Volksleiden Rückenschmerzen ist vielen bekannt
Unter den 20 häufigsten Hauptdiagnosen in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen im Jahr 2016 lag dieses Leiden an dritter Stelle. Muskel- und Skelett-Erkrankungen verursachten in 2015 mit 34,2 Milliarden Euro die vierthöchsten Kosten im Gesundheitssystem; umgerechnet entstanden so Pro-Kopf Kosten von 420,00 € (Pressemitteilung Nr. 347 vom 29.09.2017 Statistisches Bundesamt/Destatis).
Zwei von drei „Dental Professionals“ berichten in einer amerikanischen Umfrage von berufsbedingten Schmerzen, die, wenn sie nicht behandelt werden, zur Berufsunfähigkeit führen können. (Dr. Bethany Valachi, Oregon, Autorin des Buches „Practise Dentistry Pain Free: Evidence-based Strategies to Prevent Pain & Extend Your Career“).
“Rückenschmerzen” sind ein Top-Thema in allen Medien. Gibt man den Suchbegriff in Google ein, wird man in 0,40 Sekunden von 1.970.000 Treffern überrollt.
Sehr schnell wird klar, dass Rückenschmerzen nicht gleich Rückenschmerzen sind. Sie müssen nicht da entstehen wo sie sich bemerkbar machen. Sie können akut, subakut, chronisch oder nur zeitweise im unteren, im oberen und mittleren Rückenbereich in unterschiedlicher Ausprägung spezifisch oder unspezifisch auftreten.
Die Ursachen sind vielfältig und reichen von Überlastungs- und Verschleißproblemen, Fehlhaltungen, Bewegungsmangel, ungünstig eingestellten Klimaanlagen bis hin zu psychosomatischen Erklärungsansätzen. Ursachen, die nicht immer einfach und schnell zu diagnostizieren sind. Allen gemeinsam ist, dass sie eine Vorgeschichte haben und die Lebensqualität beeinträchtigen.
Es wäre ungewöhnlich, wenn dies nicht auch für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Zahnarztpraxen gelten würde.
Die Arbeitsweise in der Praxis ist gekennzeichnet von wenigen Veränderungen in der Haltung und kaum Bewegung – meist in einem engen Radius am Patientenstuhl. Da unsere Behandlungen gut geplant sind, wird unser Arbeitsfluss in der Regel nur durch einige wenige, kurze Schritte unterbrochen. Meist wird langanhaltende statische, bewegungsarme Haltearbeit geleistet, die mit einer Dauerteilbelastung einzelner Abschnitte des Bewegungsapparates verbunden ist. Das Arbeitsfeld am Patienten ist oft schlecht zugänglich und erzwingt einen begrenzten Einblicks-Winkel, vor allem, wenn der Patient auch noch schlecht gelagert ist.
Diese beruflichen Arbeitsabläufe mit jahrelangen Wiederholungen verursachen oft zunächst lokale Probleme und Schmerzen, dann funktionelle Beschwerden und schließlich bleibende Schäden am Skelett- und Muskelsystem, die die Berufsausübung hemmen können.
In meinen vielen Team- und Praxisschulungen wurde mir immer wieder berichtet, dass Rückenschmerzen ein recht gravierendes Problem in den Praxen sind. Neben den persönlichen Einschränkungen des bzw. der Erkrankten sind auch die Kollegen und Kolleginnen betroffen. Behandlungen müssen abgesagt oder verschoben werden, Arbeitsbereiche umorganisiert, so entstehende Lücken, wenn möglich, gefüllt werden. Arbeits- bzw. Personalausfälle bringen zudem Verdienstausfälle und Unzufriedenheiten mit sich.
Hinzu kommt, dass solche Ausfälle kein Einzelfall bleiben und die Diagnose nicht selten schwierig und recht langwierig ist.
Zur oben bereits angesprochenen „Vorgeschichte“ gehören auch schmerzauslösende oder verstärkende Faktoren in der Praxis, die relativ einfach abgestellt werden können, wenn man sie einmal identifiziert hat. Aber der Reihe nach … schauen wir uns mal einen ganz normalen Arbeitstag an …
Es ist Dienstag. Schon nach zwei Patienten hat die Prophylaxefachkraft Sabine einen steifen Nacken, kurz vor 11 Uhr macht sich der Rücken bemerkbar, bei der letzten Sitzung vor der Mittagspause kribbelt es schon in der Hand – die Zahnsteinablagerungen und Beläge der letzten Patientin waren aber auch wirklich schwer zu entfernen … außerdem war die Sicht nicht gut … Die Sitzung hat länger gedauert als geplant, also fällt die Mittagspause kürzer aus. Pünktlich um 13.45 Uhr geht es weiter, der nächste Patient wartet schon. Eigentlich fühlt sich Sabine schon müde, der Rücken schmerzt, es kommen heute Nachmittag aber noch 4 Patienten. 19 Uhr – der letzte Patient hat die Praxis verlassen – Sabine fühlt sich schlapp, die Schulter schmerzt, der Nacken ist verspannt – jetzt wäre frische Luft genau das richtige. Sabine setzt sich ins Auto, fährt noch einen kleinen Umweg, um noch etwas einzukaufen und steht schließlich im Stau. Eigentlich wollte sie heute Abend noch mit dem Fahrrad einen Runde drehen, aber jetzt hat sie keine Lust mehr – es fängt auch leicht an zu regnen … Kennen Sie das?
Bestimmt! Ich weise die Kolleginnen in den praktischen Arbeitskursen sofort auf diese Aspekte hin – höre dann häufig: „Ja, Rückenschmerzen habe ich schon länger“ oder „ich habe diese Zusammenhänge in meiner Ausbildung gar nicht gelernt“ … Wir alle haben einen „Alltag“ und bewegen uns in Gewohnheiten, die wir alle schwierig ändern können – aber es lohnt sich immer schlechte Gewohnheiten abzulegen … Ich denke dabei in erster Linie an über Jahre hinweg ungünstige Arbeitshaltungen, schlechte Patientenlagerung und suboptimales Equipment, wie z.B. Arbeitsstühle, Lupenbrillen, Beleuchtung, Lichtquellen etc.
/// Patientenlagerung
Der Schlüssel für eine gesunde Arbeitshaltung und effektive Abstütztechnik liegt in der Patientenlagerung. Die optimale Patientenlagerung hat 2 Funktionen: entspannte Lagerung für den Patienten und die Schaffung günstiger Arbeitsmöglichkeiten für die Behandlerin. Für die optimale Oberkiefer-Lagerung läuft eine gedachte Verbindungslinie zwischen Kopf und Füßen parallel zum Fußboden – das heißt Kopf und Füße liegen auf einer Höhe. Um für den Patienten diese Lage bequemer zu machen, empfiehlt es sich, mit einer Knierolle die Knie des Patienten anzuheben, so gerät er nicht ins Hohlkreuz. Der Kopf ist richtig gelagert, wenn die Kauflächen der OK Zähne im rechten Winkel zum Fußboden sind. Bei der Unterkiefer–Lagerung liegen die Füße ein wenig tiefer und das Kinn des Patienten wird etwas auf die Brust genommen – so sind dann die Kauflächen der UK Zähne annähernd parallel zum Fußboden. Jetzt kann der Arbeitsstuhl entsprechend auf die optimale Höhe eingestellt werden und der Rücken muss nicht mehr verdreht werden … Ein Tipp: Lassen Sie Ihre Patienten schon in einer schrägen Stuhlposition einsteigen, dann ist der Weg, den der Stuhl zurückfährt nicht so lang …
/// Arbeiten in der 10 Uhr-Position
Von entscheidender Bedeutung ist die Sitzposition in Bezug zu dem Patienten. Ich beobachte sehr häufig, dass Behandler, die einen Großteil ihrer Tätigkeit von der 10-Uhr-Position aus erbringen, über mehr Erkrankungen des Bewegungsapparates klagen – oft in der linken Schulter, im Arm und in der Hand. Die Gründe sind einfach nachzuvollziehen: Wenn Sie in der 10-Uhr-Position arbeiten, führen Sie Ihre Arme über die Brust oder Stirn des Patienten. Wegen des geringen Abstandes beugen Sie sich auf der einen Seite vor, um die Mundhöhle inspizieren können, dabei wird der Patient oft auch zu hoch positioniert, was ebenfalls dazu führen kann, dass Sie mit angehobenen Armen arbeiten. Durch eine solche Haltung wird nicht nur der Schultergürtel extrem angespannt, sondern auch die Lendenwirbelsäule einseitig belastet.
Die 12 Uhr-Position hingegen wird selten genutzt und ermöglicht jedoch eine neutrale Körperhaltung des Behandlers mit angelegten Armen und vermeidet weitgehend Fehlhaltungen.
Halten Sie sich immer wieder die möglichen Konsequenzen vor Augen, dann fällt es nicht mehr so schwer, langjährig erworbene Fehlhaltungen zu korrigieren.
Mein Tipp: Nutzen Sie den ganzen Radius rund um den Patientenkopf, um immer mit einem geraden Rücken zu arbeiten. Durch eine korrekte Patientenlagerung und eine gute Arbeitshaltung haben Sie außerdem einen besseren Zugang zum Arbeitsgebiet und eine viel bessere Sicht.
/// Sattelstuhl
Im Zusammenhang mit der Körperhaltung des Behandlers, schlage ich meinen Teilnehmern vor, auch mal einen Sattelstuhl als Arbeitsstuhl zu probieren. Der Sattelstuhl vereinigt einige ergonomische Vorteile:
– aufgrund seiner ergonomischen Form sitzen Sie in einer aufrechten und für die Hüftgelenke vorteilhaften stabilen Position
– die aufrechte Wirbelsäulenhaltung fördert die korrekte Kopfhaltung
– die Zwerchfellatmung wird verbessert
– die Durchblutung der Beine wird nicht behindert
Aufgrund der Bedeutung und möglichen negativen Folgen empfehle ich regelmäßig entsprechende Inhouse-Schulungen in der Praxis. In vertrauter Umgebung, mit den täglichen Gegebenheiten sollten unter Kontrolle eines erfahrenen Trainers die korrekte Arbeitshaltung, eine korrekte Patientenlagerung und sachgerechte Abstütztechniken vorgeführt und gegenseitig geübt werden – denn auch im Zahnmedizinstudium werden diese Themen nur gestreift …
/// Lupenbrille
Schlecht oder gar nicht angepasste Lupenbrillen können ebenfalls, aufgrund der Belastung der Halswirbelsäule, zu erheblichen Nackenschmerzen führen.
Hier ist die Kopfhaltung bzw. der Neigungswinkel des Kopfes des Behandlers das Problem. Eine Neigung um mehr als 20 ° ist ungünstig. Dieser Neigungswinkel ist häufig der Form und dem Gewicht der Lupenbrille geschuldet. Probieren Sie das Modell aus und lassen Sie sich unter Hinweis auf das Neigungswinkelproblem fachkundig beraten. Ich favorisiere ultraleichte Lupenbrillen – natürlich auch mit zusätzlichem Licht.
/// Präventionsmaßnahmen
Nicht selten werde ich gefragt, welche Präventionsmaßnahmen sollte man ergreifen und mit welchen zusätzlichen Maßnahmen Rückenschmerzen begegnet werden sollte, wenn das „Kind schon in den Brunnen gefallen ist“ … Nun, Prävention ist immer gut, das wissen wir aus unserem Fachbereich! Prävention in diesem Falle wäre Sport – Rückenschule und Sportarten, bei denen Rücken und Bauch trainiert werden – Ja Sie lesen richtig: Auch der Bauch muss trainiert werden, wenn der Rücken gestärkt werden soll.
Wäre da nicht Günter … Sie kennen Günter, den kleinen Schweinehund, nicht? Er ist Schuld, wenn wie in unserem Beispiel des Arbeitstages von Sabine, nach der Arbeit kein Sport mehr getrieben wird oder das Sofa dem Fahrrad vorgezogen wird… Überlegen Sie sich im Team, Günter zu überlisten und verabreden sich vielleicht mit Kolleginnen zum abendlichen Sport – in der Gruppe macht es sowieso mehr Spaß!
Haben sich die falschen Bewegungsmuster etabliert und treten die Rückenschmerzen täglich auf, sollte das zunächst untersucht werden. Orthopäden arbeiten hier mit Physiotherapeuten zusammen und können nach einer ausführlichen Diagnostik einen Behandlungsplan erstellen.
Wie gesagt, eine genaue Diagnose ist manchmal reinste Sisyphusarbeit. Aber das ist für uns in unserer täglichen Praxis nichts Ungewöhnliches. Schildern Sie genau welche Probleme, anlässlich welcher Tätigkeit wo und wie auftreten. Schildern Sie auch Ihre Behandlungssituation bzw. tatsächlichen alltäglichen Gegebenheiten möglichst genau, um der Ursache möglichst schnell auf die Spur zu kommen. Parallel dazu sollte natürlich auch an den Bedingungen und den Arbeitsgewohnheiten gearbeitet werden, um so gesunde Bedingungen zu schaffen.
Die korrekte Patientenlagerung, eine rückenschonende Arbeitshaltung und eine professionelle Abstütztechnik können und müssen erlernt und trainiert werden.
Die Argumentation, das geht schon, das habe ich immer so gemacht, ich kann mich nicht mehr umstellen, wird mit ziemlicher Sicherheit zu den o.g. Problemen führen.
Schmerzen und krankheitsbedingte Ausfalltage müssen nicht sein und können verhindert werden.
Unter präventiven Gesichtspunkten empfehle ich regelmäßig, dass sich auch Kollegen und Kolleginnen die (noch) nicht unter Rückenschmerzen leiden, mit dieser wichtigen Thematik auseinandersetzen.
Für mich sind arbeitsbedingte Rückenschmerzen keine zwangsläufige Folge unseres Berufes. Mit den richtigen Maßnahmen sind Sie auf dem sicheren Weg in eine gesunde berufliche Zukunft.
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